Obskure Methoden der Selbstmotivation mit Hang zu automasochistischen Tendenzen
Mein Blick geht aus dem Fenster der Bahn auf die ewig
gleichen Häuser aus den Fünfziger Jahren. Müde. Bleischwer von Erfahrungen,
Befürchtungen, Erwartungen. Doch dann schießt mir etwas durch den Kopf, was ich
mir vor Urzeiten eingebläut habe, anerzogen. Eingraviert ins Hirn. Wie immer
man sagen will. Plötzlich drängt sich mir die Frage auf: die ewig gleichen
Häuser? Oder nicht doch eher der ewig gleiche Blick? Dieser
Ich-bin-auf-dem-Weg-zur-Arbeit-genau-wie-gestern-und-genau-wie-Vorgestern-und-genau-wie-morgen-Blick.
Dieser Blick, der alles nur im Vorbeigehen streift, im Übergang und zu allem
sagt: kenne ich, kenne ich. Kenne ich, aber neues Graffiti. Supermarkt. Kenne
ich. Ist das nicht mein Blick? Meine Gewohnheit? Bin nicht ich vielleicht der
Vater dieses Einerlei? Die Mutter der Langeweile? Der komische Onkel, der immer
in Birkenstock-Sandalen den Müll rausträgt, ohne sich noch zu freuen, dass es
s-e-i-n Haus ist, das er gerade verlässt, um sogleich wieder darin zu
verschwinden und Tatort zu schauen? Gott! Immer diese deutschen Filme. Schießt
es mir durch den Kopf. Kalte Belichtung. Leicht bläulich sogar. Die minimale
oder dann plötzlich völlig übertriebene Mimik der Schauspieler. Die ach so
kreativen Kamerafahrten. Als hätte Berthold Brecht überall Regie. Genau. Wo war
ich? Ach ja. Der Blick. Eine Kaskade von Assoziationen kommt in mir auf, soviel
gelesen, so oft daran gedacht. Synapsen machen sich auf den Weg, neue
Kreuzungen zu bauen, alte Bündnisse zu erneuern. Jeder schöpft aus seinem
Vorrat. Der Blick. Man müsste ihn wirklich immer als Subjekt betrachten, nicht
als passives Ereignis. Ganz wie die alten Idealisten sagen: Jedes Wesen ist ein
Subjekt, es entwickelt sich, am Ende hat es eine Geschichte, seine eigene
Geschichte. Es ist ihr Protagonist, sei es nun eine hehre Idee wie die der
Freiheit, sei es der Bleistift, mit dem ich gerade in der Hand spiele. Und so
auch der Blick. Er kann aufblitzen oder leer sein, er kann die Welt neugierig
durch große Pupillen verschlingen, wie man sie von Psychedelika bekommt. Jeder
einzelne Ausschnitt eine Idee, ein neuer Moment. Eine Frage eben. Der Blick
kann ein Tier sein, er ist sogar eines, er lauert regelrecht, hungrig, wie ein
Wolf. Wahrscheinlich auf alles, was neu wäre, was anders wäre. Eben nicht so
wie gestern, und vorgestern und letztes Jahr. Ein Blick, der sogar stechen
kann, beißen. Aber das tut er ja nicht einfach so. Der Blick, das sind ja wir
selber. Für Sartre, so fällt es mir plötzlich ein, war nicht nur der Blick,
sondern das ganze Bewusstsein immer außer sich, draußen, da hinten, bei der
Mauer. So ist mein Blick ich. Ich, der sich da an den Hauswänden langweilt,
ich, der sich selbst mit dem Blick auf den gegenüberliegenden versifften Sitz
anöde. Ich, der den Typen zum Kotzen findet, der dahinter an der letzten Tür
des Waggons lungert wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Ich bin diese Leere.
Dieses Warten auf einen bestimmten Augenblick. Ich bin dieses Warten, das alles
zum Nebenher werden lässt. Alles abhakt. Abhackt. Das Warten auf die Bahn. Die
nächste Station. Diese Unterführung. Dieses Aussteigen. Die nächste Schicht im
Bergwerksstollen der gescheiterten Träume. Dieses Warten, das übrigens tötet.
Es tötet Momente. Es tötet das Leben. Es tötet dich selbst, wenn du verstehst,
was ich meine. Nicht sofort. Sondern sanft. Wie im Schlaf. Die Gewohnheit ist
das Kissen, das du dir selbst unterbewusst auf das Gesicht drückst. Ohne es zu
merken. Vielleicht träumst du schon von Atemnot während eines Tauchgang in der Südsee. Und dann, Zack,
kommt, worauf du solange gewartet hast: der letzte Herzschlag, die letzte
Entleerung. Oder war es die letzte Ölung? Ist dann aber auch egal. Wir werden
die meiste Zeit gewartet haben. Das heißt, wir werden unser Leben daran verschwendet
haben, Augenblicke zu morden. Und uns auch noch darüber beklagt zu haben.
Dieses Klagen. Da kann ich ein Lied von singen. Beginnt
schon bei Jugendlichen. Und ist immer ein nervtötendes Seufzen, mit dem wir
alle nerven, uns selbst eingeschlossen. Später dann, wenn wir noch mehr
gewartet haben, kommt mit dem Seufzer noch der Hauch von Mundgeruch in den
Raum. Ranzige Verwesung. Besser doch Klappe zu. Auch innen. Ja, es ist derselbe
Weg. Ja, ich muss ihn fahren, gehen, erleiden, aushalten. Das wird
wahrscheinlich auch morgen so sein. Höchstwahrscheinlich. Aber halt! Ich habe
mit der Zeit gelernt, meinen eigenen Worten nachzulauschen.
Höchstwahrscheinlich ist ein Riss in der Mauer, ein Loch im Zaun. Es ist eben
nicht sicher. Da ist ein Vielleicht. Und dieses Vielleicht kann jederzeit
vorbeischauen. Es kann ein Taxi sein, das neben der Bahn aus einer Nebenspur
kommt. Langsam. Du schaust aus dem Fenster und denkst: Na, der wird doch nicht
so blöd sein und die Bahn rammen. Ist ja sein eigenes Fahrzeug und die
Geschwindigkeit ist gering, und es ist noch Raum und Zeit, in die andere
Richtung zu lenken. Aber nein. Er hält auf die Bahn zu. Nicht frontal. Sondern
seitlich, mit dem Kotflügel. Der Raum wird enger, das Taxi ist fast genau neben
deinem Fenster. Leicht darunter. Denn die Bahn ist ja erhöht. Du schaust nur
zu. Es ist wie im Film. Zeitlupe. Hoffen, Bangen und alles. Und dann kommt, was
kommen muss. Es gibt einen Knall. Ein Ruck geht durch die Bahn. Ein
schleifendes Geräusch folgt. Es wird gebremst. Die Wagen kommen zum Stehen.
Fuck! Fuck, Mann! Das war ein Unfall. Du hast überlebt, alle haben das,
unverletzt. Aber jetzt bist du Zeuge. Durch die Tür zum Führerhaus der Bahn
hörst du den Fahrer laut mit der Zentrale reden: „Ja, scheiße, Unfall…ja, an der
Seite…ich stehe auf Höhe Raderuk-Straße…nee, muss Polizei…war ein Taxi…kennste…“
Und deine nächste Schicht findet nicht statt. Wer hätte das gedacht? Und wegen
so einer überflüssigen Aktion? Wollt ihr mich verarschen? Ist das Versteckte
Kamera? Soll ich lachen? Soll ich heulen? Hab ich alles schon erlebt. Und genau
diese Szene. Und wenn du besonders viel Pech hast, bei all dem Glück meine ich,
dann passiert so etwas in einer Zeit, in der es noch keine Handys und
Smartphones und Wunderuhren gibt. Immerhin. Es hat sich was ereignet, dessen
Wahrscheinlichkeit verschwindend gering war. Vielleicht hatte der Taxifahrer
Doppelschicht,, war am Steuer eingenickt. Keine Ahnung. Meist bekommt man die
Auflösung in der Realität nicht mit. Solches “Vielleicht“ kann ein Suffkopp
sein, der seinen Unmut an dir auslassen will. Dieses “Vielleicht“ ist gar nicht
so unwahrscheinlich wie man denkt. Kommt immer drauf an. Köln Hauptbahnhof
erhöht die Wahrscheinlichkeit zum Beispiel. Dieses “Vielleicht“ kann ein Laster
sein, der dich übersieht. Oder das Lächeln einer Fremden. Ich würde da mal ein
Fragezeichen setzen, denn das kommt auf der Straße nicht so oft vor, wie man
denkt. Und wenn man alle Hintergründe reflektiert, weiß man sogar warum. Aber
auch dieses “Vielleicht“ ist möglich. Auch schon erlebt.
Aber ich schweife wieder ab. Es ist bestimmt klar, was ich
meine. Bis hier. Dieser Blick ist ein Subjekt und dieses Subjekt sind wir. Wenn
wir fair zu uns sind, dann dürfen wir die Gesellschaft anteilig dazu rechnen.
Ist ja der Kontext des Ganzen. Die Arbeit. Die Freizeit oder was man dafür
hält. Die Schule. Die Peergroup. Die Medien. All das schwingt ja auch in diesem
Blick mit. Lenkt ihn. Lenkt uns. Aber diesen Gedanken sollte man nicht zu stark
machen, sonst wird er zu einer feigen Ausrede heranwachsen. Was wir damit
machen, ist unsere Entscheidung. Unsere Entscheidung heißt Freiheit. Freiheit
bringt es mit sich, dass wir Verantwortung übernehmen. Natürlich können wir uns
davor drücken. Das machen wir die meiste Zeit. Ich bin da ehrlich. Sartre
übrigens auch. Ich mag zwar gerade der Protagonist dieses Textes oder dieser
Geschichte oder wie immer man das nennen kann…aber ein Held? Denkt das
ernsthaft irgendeine Seele auf diesem gottverlassenen Welt von sich? Ja.
Leider. Sogar ich. Das einzig wirksame Mittel ist Denken. Fragen stellen. Etwas
Fragen heißt: in Frage stellen. Immer eine Frechheit. Eine Dreistigkeit. Man
wird antiautoritär. Ich will Gründe, Antworten, keinen Verweis auf Positionen,
Geltung, am besten noch Ehre und Adelstitel. Wirklich antiautoritär, wirklich
frei wird man, wenn man sich selbst in Frage stellt. Und keine Ausreden hören
will. Das ist die Seele von Hardcore. Gewesen. Musikalisch. Und bleibt es.
Zumindest im Gedanken. So einfach ist übrigens Philosophie. Und Existenzialismus.
Einfach los denken, Antworten suchen.
Wieso machen mich
Häuser aus den Fünfziger Jahren so depressiv? Noch habe ich keine Antwort.
Vielleicht, weil ich weiß, dass hinter ihren Fassaden Hinterhöfe lauern. Und
diese Fassaden verstecken diese Hinterhöfe nicht. Sie weisen darauf hin. Sie
sind ein Zeichen dafür: hier, komm, geh durchs Treppenhaus, bis zur Tür am
andern Ende des Flures, mach sie auf, ja, so ist’s gut, schau dich um. Der
Himmel ist immer fünf oder sechs Stockwerke entfernt. Die Wände sind meist
grau. Wären sie weiß, würden sie im Laufe der Zeit dreckig und durch den Dreck:
grau. Ich hasse Hinterhöfe. Sie riechen nach verbranntem Essen, nach Müll, nach
Moschus, nach Zeugungsvorgängen. Denn kein Wind regt sich hier. Keine Luft
kommt daher, um alles mal aufzumachen. Das muss immer dieser eine Typ im Block
machen, vor dem alle Angst haben. Der, der Drogen nimmt, der, wo die eine Frau
der anderen die Wohnungstür in die Hand nimmt, der, der nie, niemals die grauen
Vorhänge von den Fenstern wegzieht, der, aus dessen Wohnung so oft Geschrei
ertönt, Weinen, Schluchzen, das Knallen von Türen. Oder Köpfen an der Wand? Der
Typ, von dem eigentlich alle wissen, dass er eines Tages seinen
Baseballschläger nimmt, um mit den Kindern im Hinterhof zu spielen. Auf die
schlimme Art. Der Typ, von dem manche sagen, er könnte einen Benzinkanister in
der Wohnung haben. Und niemand weiß, wofür. Vielleicht, um eines Tages alles abzufackeln.
Aber das bereitet keine Sorge. Dann wird hier neu gebaut. Aber wieder mit
Hinterhof. Garantiert. Du blickst hinein und weißt, du hast verschossen, du
bist eingelocht. Wo du auch hinblickst. Wände, Fenster, Vorhänge, ein paar
Blicke durch die Spalten eines Rollladen. Die Mülltonnen stehen links von der
Einfahrt. Die Fahrräder rechts. An der gegenüberliegenden Seite steht
vielleicht ein altes Auto. Schon angerostet. Angeschimmelt. Mit dem Schimmel,
dessen Sporen aus den Wohnungen in den Hinterhof gelangen. Oder ist es
umgekehrt? Ein Hinterhof, unendliche Albträume. So ist das. Ich hasse
Hinterhöfe. Keine Sonne. Viel Schatten. Wenn man Glück hat, regnet es. Wenn du
dich umbringen willst, aber nie so richtig in Stimmung kommst, dann miete dich
hier ein. Such dir eine Stelle mit Nachtschicht. Such dir einen Partner mit
narzisstischen Zügen. Hol dir eine Flasche Rotwein für den Abend. Setz dich ans
Fenster. Schau in den Hinterhof. Und denk über dein Leben nach. Die schlechten
Entscheidungen, die bösen Erinnerungen, die vergebenen Chancen. Lausche dem
Refrain des Alltags, hör ihn kreischen, auflachen und, vor allem, rumbrüllen: „Verdammte
Scheiße, du Hurensohn, ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass du nicht
drinnen rauchen sollst. Abgewaschen hast du auch nicht. Komm her! Komm, sofort
hierher.“ Und eigentlich muss ich nicht beschreiben, was die Stimme dem Ohr
zeigen will, dem sie gilt, oder? Das weißt du so gut wie ich. Menschen sind
fürchterlich. Hinterhöfe sind fürchterlich. Hinterhöfe sind Ansammlungen
schlechter Gedanken. Mich wundert sich, wie lang die Menschen das aushalten. Warum
man nicht mehr „Gesprungene“ findet. Und von all dem erzählen die Fassaden. Es
steht geschrieben. Als Rinnsal vergangener Regenfälle unter hölzernen
Fensterrahmen, wie man sie heute sonst nirgend mehr verwendet. Die raue Schale
aus dunklem Stein verbirgt und zeigt zugleich. Die Risse in der Fassade. Aber
das sind nur Sinnbilder. Mein Blick erfasst diese Drohung sofort, in einem, als
Ganzes. Und dieser Blick liest Erzählungen aus dem Gewohnten. Er gleitet nicht
mehr ab. Er streift nicht mehr im Vorbeigehen, wie blind eigentlich. Jetzt
forscht er, spielt gestaltet. Vielleicht dreht er frei. Dieser Blick ist immer
Geist, immer anwesend bei sich und der Welt. Und er ist ganz Existenzialist.
Immer. Das sind wir alle.
Nun warte ich nicht mehr. Ich fühle mich vielleicht nicht
wohl, sondern bedrückt, beengt, angewidert. Mein Blick sucht schon
Fluchtpunkte. Jenseits der Mauern. Und trotzdem, mehr noch, gerade deswegen ist
er ganz hier. Wach. Wirklich wach. Das ist es, was ich mir, zum Glück,
irgendwann, in hoffnungsvolleren Zeiten Jugendlichen Traums antrainiert habe.
Manchmal weich, zart, wie in einem Yoga-Kurs für Anfänger, mal wie ein Boxer,
der sich die Hände an der Realität blutig schlägt. Ich warte nicht mehr. Ich
gehe los. Ich fange an. Obwohl mich die Gesellschaft beschäftigt auf der
Schiene hält, wie uns alle, in welcher Form auch immer. (Und wer ist eigentlich
diese ominöse, dubiose Gesellschaft, wenn nicht wir selbst? Oder besteht die
nicht etwa aus Menschen?) Ich vergesse. Ich schlafe oft wachen Blickes. Das
kommt vor. Aber wirklich gelangweilt habe ich mich in Jahrzehnten nicht. Ich
habe nicht gewartet, sondern geraucht. Ich habe nicht gewartet, sondern mich
umgesehen. Habe mich gefreut, an meinen Gedanken und Sorgen mit Furcht
gehangen, oder für einen Augenblick frei auf eine spannende Auslage geschaut.
Immer wenn ich mich langweile, weiß ich, dass ich diese lange Weile bin. Und
schon ist da etwas anderes als Langeweile. Da ist ein Fluss aus Gedanken, der
über verschiedenste Steine springt. Ich bin nicht nur auf dem Weg zur Arbeit,
sondern fahre via Kopfhörer durch frühere Jahrzehnte und andere Lebensentwürfe.
Ich versuche, mit den Augen von Van Gogh zu sehen, mit dem irren Blick von
Johnny Rotten oder den großen oder kleinen, stecknadelkopf-kleinen Augen von
Christiane F. Und immer war doch ich es, der das in sich aufnahm oder aus sich
heraus gesponnen hatte, hinein in die Welt. Irgendwann einmal bin ich über die
Erkenntnis gestolpert, dass Warten und Sterben identisch sind, dass Leben und Sterben
identisch sind. Dass wir uns entscheiden können, wie wir die Zeit verbringen,
die mit diesen in sich verwobenen Abläufen einhergeht. Worauf sollten wir
warten? Und ich bin über die Erkenntnis gestolpert, dass die Welt ein Spiegel
unserer selbst ist, dass wir ein Spiegel für die Welt sind. Und ein Spiel von
Spiegelungen ist unser Geist auch für Sartre gewesen. Nur dass die Spiegelung
der Spiegelung eine Spiegelung zustande bringt, die sich spiegelt, bis alle
Bilder in der Dunkelheit des Unendlichen verschwinden. So ist dieses Spiel
eines, das wider Erwarten nicht in einer hellen, kristallklaren Gewissheit
mündet, sondern im Gegenteil ein Abgrund werden kann. Ein Labyrinth, in dem
unsere Gedanken sich verlaufen können. Ein Spiel mit dem Wahnsinn. Aber ist
unser Denken das nicht immer? Wer es nicht glaubt, soll in einen Spiegel
schauen, der gegenüber einem andern Spiegel steht. Wer sich einlässt, der wird denselben
kalten Hauch spüren, der meinen Nacken streift, wann immer ich diesen Blick im
Ernst wage.
Wir haben die Möglichkeit, eine Zeit lang staunen zu können.
Jetzt. Hier. Eingepfercht in der Bahn. Umgeben von gemeinen Hinterhöfen voller
dunkler Geschichten. Irgendwann werde ich vielleicht eine dieser Geschichten
nehmen und einen Roman daraus machen. Vielleicht auch nicht. Aber in jedem Fall
läuft hier eine Geschichte, die eines Blickes, eines Ohres, eines Bewusstseins.
Wie auch immer. Und diese Geschichte hat einen Protagonisten. Wir wissen, dass
diese Geschichte furchtbar enden wird, nur ist uns unbekannt, wann. Wir wissen,
dass diese Geschichte und ihr Protagonist sich gelegentlich sich selbst vergessen.
Es handelt sich schließlich bei beiden um niemand anderen, als uns. Aber ab und
an werden wir wach, schauen uns um, beginnen zu sehen. Und in diesem Moment, zumindest
für diesen Moment können wir wählen. Am Anfang war der Schmerz, am Ende
wird er uns wieder besuchen und mit sich nehmen. In der Zwischenzeit versuchen
wir zu leben. Auch das ist eine Entscheidung: Leben! Wirklich leben! Oder doch nur
überleben? Aber wenn überleben: wofür eigentlich?
Jedenfalls betrachte ich die Häuser, die an mir vorüber
ziehen. Und morgen wird mein Blick vielleicht liebevoll über sie streicheln, in
Erinnerung an die Geburt einer Idee: Anfangen. Jetzt. Hier. Ganz einfach. Man
kann viele Worte verwenden, die um diese Idee kreisen. Eines davon: Punk. Das
Leben ist scheiße, scheiß drauf, der König ist tot, es lebe der König. Am Ende
werden alle diese Worte zu einem größeren Begriff gehören. Leben. Oder Tao.
Oder so ähnlich. Und wenn wir anfangen zu fragen, was das bedeutet, dann
treiben wir Philosophie. Ganz einfach. Ganz real. Das Abenteuer beginnt nicht
nur, es hat immer schon begonnen. Die schönen Momente der langen Weile, die es
sich selbst besorgt, mental, meine ich.
Die nächste Station. Danach kommen die Plattenbauten auf der
freien Wiese. Ah. Plattenbauten. Eine Erleichterung. Gropius. Bauhaus. Soziale
Gedanken. Aber das ist eine andere Geschichte. Ein andermal. Ich lehne mich
entspannt zurück, die leichte Übelkeit, das Unbehagen lässt nach. Für jetzt.
Ich setze die Kopfhörer auf und wähle auf dem Smartphone ein Album aus. Pixies.
Pixies wären jetzt nicht schlecht. Ein wenig Feenstaub. Ein wenig Hexenwerk.
Schön, doch hässlich. Erst schnell, dann langsam, mal hart, mal weich. Leben.
Wenn du unterwegs bist, blick dich um, such dir einen
Soundtrack, erzähl dir eine Geschichte, mach dir bewusst, dass du der
Protagonist einer Geschichte mit tödlichem Ausgang bist. Memento morii, wie die
Punks schon zu Zeiten des römischen Reiches in ihrer damaligen Sprache sagten.
Und vergiss nie, du bist the Passenger. Du bist für die Welt da und die Welt
für dich. Du bist der Passenger, lass deinen Blick locker und cool über die
Scheiße streifen, die man Alltag nennt. Aber hier geht es nicht um
Vorschriften. Ich will nicht mal behaupten, Recht zu haben. Es ist nur eine
Idee. Schon viele hatten sie, schon lange vor mir, noch viele werden sie haben,
lange nach mir.
Die Bahn hält. Ich mache mich mal auf den Weg, um einige
Stunden freundlich zu lächeln, während ich Theaterkarten einreiße oder Jacken
annehme. Wie gestern. Wie morgen. Doch gehe ich den Weg anders jetzt. Als
meinen! Und ab und an erzähle ich davon. Wie willst du selbst es halten?
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