Samstag, 24. Juni 2023

Elastico

 Ich heiße Superfantastisch, ich trinke Schampus mit Lachsfisch

sangen Franz Ferdinand 2003 auf ihre Debütsingle „Darts of Pleasure“ und bis vor ein paar Minuten war ich der Meinung, dass in dem Songtext auch das Wort „superelastisch“ vorkäme. Stimmt aber nicht. Falsche Erinnerung und falsche Erwartung – diese beiden sind ein Geschwisterpaar, das keiner mag, wenn es uneingeladen zu Besuch kommt. Falsche Erinnerung ist ein grobschlächtiger Typ im Freizeitanzug und mit Trauerrändern unter den Fingernägeln, der immer alles besser weiß, falsche Erwartung die nervige Zicke im geschmacklos gemusterten Kleid, die ungeduldig auf der Sprungfeder des Sofas wippt und dabei Kaffee aus einer angeschlagenen Tasse verschüttet. Um letztere soll es im nun folgenden Text gehen, meinem allerersten für Elas Omere. Ich hab’ mich aus diesem Anlass extra cool gestylt, mir den Augapfel gepierct (wie es in einem Song von PeterLicht heißt, weiß gerade nicht in welchem) und sitze superelastisch am Computer.



Unlängst verschlug es die Mitglieder von Elas Omere zu „1920ER! Im Kaleidoskop der Moderne“ Hier! in die Bundeskunsthalle Bonn, einer an sich ganz herrlichen Ausstellung, wohlkuratiert, mit interessanten Exponaten, Filmbeiträgen und der Möglichkeit, sich ausführlich vor Greenscreen in Zwanzigerjahre-Kulissen zu fotografieren, wovon wir selbstverständlich ausführlich Gebrauch machten. Und dann war da noch ein Salon zum Verweilen, in dem sich André van Markow derart in einen Sessel verliebte (Metall, schwarzes Leder, Le Corbusier), dass wir eine Weile festsaßen, was ich zum Anlass nahm, ausführlich den Ausstellungskatalog zu betrachten. Was soll ich sagen? Ich war absolut hingerissen! Ich las den Briefwechsel zweier prominenter Damen aus den Zwanzigern, die über weibliches Kunstschaffen und Bilder schrieben, die ich alle soeben gesehen hatte. Wie hatten die Ausstellungsmacher es bloß hingekriegt, das alles hier vorort zu versammeln? Meine Bewunderung wuchs ins Unermessliche, längst hatte ich beschlossen, später im Museumsshop zuzuschlagen, koste es, was es wolle, nehmt all mein Geld, aber gebt mir diesen Katalog! Doch Moment, war das alles nicht doch ein bisschen zu gut, um wahr zu sein? Zuerst hatte mich die überhaupt kein bisschen eingestaubte Sprache der Briefeschreiberinnen überrascht (wie unglaublich zeitgemäß, auch heute noch, wie frisch selbst für die flotten, avantgardistischen Zwanziger!), nun machte sie mich stutzig: Las sich das nicht doch ein bisschen so, als ahmte jemand literarisch nach, wie er sich so etwas vorstellte? Feministische Fantasie – konnte das sein? Ich suchte nach einem Hinweis im Inhaltsverzeichnis und unter dem Kapitelbeginn und fand ihn schließlich winzigklein in den Endnoten. Ja, verdammt noch mal, da hatte jemand seiner Imagination freien Lauf gelassen und ich war einfach so drauf reingefallen! Ich fühlte mich bösartig düpiert. Offenbar war es allzu leicht, mich zu täuschen. Hatte ich es also womöglich verdient? Da Falsche Erwartung weder Kaffee, Schampus noch Lachsfisch zum angewiderten Verschleudern dabeihatte, weckte sie André van Markow und es ging weiter zu Portraits, auf denen vermerkt stand, unter dem Einfluss welcher Substanzen sie entstanden waren. André van Markow war beinahe so begeistert wie von dem Le Corbusier-Sitzmöbel. Er ist theoretischer Morphinist/Kokainist.

Nun ist es eine Sache, sich verschaukelt zu fühlen, weil man naiv etwas Ausgedachtes für bare Münze/Nachinflationsreichsmark genommen hat, merkwürdig widersprüchlich wurde es für mich aber erst, als sich bei mir direkt zweimal kurz hintereinander Enttäuschung darüber einstellte, das etwas nicht ausgedacht war. Ihr kratzt euch am Kopf? Ich ebenfalls. Und Elas Omere bestimmt auch, ich stelle mir vor, wie er das mit dem Ende eines Sti(e)lkamms tut, damit der mittels Seife und Zucker aufgestellte Haarkamm keinen Schaden nimmt.

Enttäuschung ist dieser fiese kleine Kläffer, den Falsche Erwartung manchmal ungefragt mitbringt und dessen Hinterlassenschaften mich jüngst zweimal beschäftigten.
Das erste Mal schlich sich dieses merkwürdige, etwas schal-fahle Gefühl ein, nachdem ich Olga Tokarczuks an sich fabelhaften Roman „Empusion“ Hier! beendet hatte, mich in den Rezensionen umsah und feststellte, dass es die Lungenheilanstalt Görbersdorf, jenen „Zauberberg Schlesiens“, tatsächlich gegeben hat. Während der Lektüre hatte ich mit Begeisterung Abbildungen von Postkarten, Reklame und Preistafeln gesehen und gedacht: Wow, das ist aber Liebe zum Detail, da haben sich Autorin und Verlag einen Grafiker herangezogen, der das eigens völlig authentisch im Stil der 1910er hergestellt hat. Und dann. War. Das. Echt! Und ließ mich einerseits begeistert zurück (Cool, da könnte man ja auf einer Polenreise mal hin), aber andererseits, und ich will nicht verhehlen, dass dieser Aspekt mich deutlicher traf, dachte ich: Männo, das hat sich die Autorin ja gar nicht ausgedacht, hmpf. Das schmälert die Qualität des Textes natürlich auf keine Weise und hätte ich es vorher gewusst, wäre es mir vermutlich schnurz gewesen, aber so… irgendwie … meh.
Das zweite Mal knurrte der dümmliche Kläffer von Falsche Erwartung, nachdem ich vor ein paar Tagen „Eine Suite auf vier Ebenen“ von David Rix beendet hatte (erschienen in der äußerst empfehlenswerten Reihe „Whitetrain Underground“ Hier!)
Die aufmerksame Leserin hätte zweifellos schon am Klappentext erkennen können, dass es in diesem Chapbook um ein reales Stück Musik geht, nämlich „Black Angels: 13 Images from the dark lands“ von George Crumb. Hat sie aber nicht. Ich habe es in all meiner mangelnden Sagazität für ein Verwirrspiel des Herausgebers gehalten, vermutlich weil mir der Komponistenname nicht sagte. Peinlich, aber so ist es. Die Kölner Neue Musik-Welt ist so übervoll von sich selbst, Stockhausen, Kagel und Co., dass mir dieser Herr trotz so vieler, oft leidvoller Konzerte und Festivals nie begegnet war. Beim Lesen verstieg ich mich sogar in die Theorie, es könne sich bei aus den Fenstern davonfliegenden Musikern um eine Persiflage auf Stockhausens „Helikopter-Streichquartett“ handeln, aber nein, eine Besprechung von Andreas Giesbert öffnete mir die Augen: Oh, dieses Stück gibt es wirklich. Und wieder das gleiche Gefühl. Na, ihr wisst schon. Auf einmal war mir der Text etwas zu wenig. Zu leicht? Etwas in der Art.

Was also tun? Künftig doch lieber vor dem Lesen Informationen einholen, auch auf die Gefahr hin, sich voreingenommen zu machen oder zu spoilern? Oder lieber arglos im Zustand naiven Deppentums verbleiben? Ich weiß es noch nicht. Ist aber im Grunde auch egal. Auf mein schlechtes Gedächtnis ist Verlass. Irgendwann kommt sowieso Falsche Erinnerung um die Ecke, rülpst, zerquetscht eine Dose Bier und verkündet lautstark, wie es niemals war. Bis dahin versuche ich, mich nicht so leicht austricksen zu lassen. Und superelastisch zu bleiben. Elastico ist übrigens eine Finte beim Fußball. Aber das wusstet ihr bestimmt schon.

P.S.: Lest bitte unbedingt trotzdem:

Olga Tokarczuk, Empusion
David Rix, Eine Suite auf vier Ebenen
Ihr wisst ja jetzt Bescheid.

(Ina Elbracht)






2 Kommentare:

  1. Habe die Suite auf vier Ebenen heute morgen gelesen, danke Elas Omere, für den Tipp. Ich bin sehr begeistert. Von der Novelle, aber auch von eurem Blog! Der ist jetzt in der Browserleiste abonniert! - Übrigens finde ich toll dass es die Suite wirklich gibt und dass sie bei kurzen Reinhören auch so geil klingt. Dem Werk werde ich mich mal in einer stillen Stunde 100% widmen müssen - ich ahne, dass es sich lohnt.

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    1. Vielen lieben Dank, lieber Halber Kapitel! Da bin ich ja fast ein bisschen stolz, dass Elas Omere zu diesem literarischen und musikalischen Gewinn beitragen konnte. Wunderbar!

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